Der blaue Elefant

Herbert W. Franke

Endlich hatte sich die Tür geöffnet, und die Künstler traten ein - je nach Temperament ruhig und gelassen oder auch in verhaltenem Laufschritt in Richtung zur großen Bildwand.

Das war also die prämierte Grafik. Carry Eisfeldt war fassungslos. Dieses Machwerk sollte das beste Bild sein! Dazu hatte eine Fachjury drei Tage lang getagt, Fachleute internationalen Rangs, und nun das. Carry kannte einige der Künstler, die sich beworben hatten, und es waren sehr fähige Leute dabei, die den Preis verdient hätten - ganz abgesehen von ihm selbst ...

Doch da kam einer auf ihn zu, schlug ihm auf die Schulter, schüttelte ihm die Hand. "Also du bist der Glückspilz - ein hervorragendes Werk." Eine Gruppe drängelnder Menschen, Stimmengewirr, Applaus. In der Mitte Carry Eisfeldt, der nicht wußte, wie ihm geschah ...

* * *

Professor Kurt Drontheim, der Vorsitzende der Jury, klappte sein Notizbuch zu. "Das war eine schwere Geburt. Aber wenigstens sind wir uns einig - Gewinner ist ein gewisser ... " , er blätterte in einem Stoß von Papier, "Carry Eisfeldt. Für die Begründung wird mir schon etwas einfallen. Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren."

Auf der Stirnseite des Konferenzsaals, auf dem großen Monitor, war die prämierte Arbeit zu sehen: Über einem in Pastellfarben gehaltenen graubraunen Hintergrund erstreckte sich ein Flechtwerk von gelben und schwarzen Linien.

"Einen Moment", rief Dr. Czylinsky, der Chefredakteur einer bedeutenden Medienkunst-Zeitschrift. "Daß wir uns einig sind, kann man nun wirklich nicht behaupten. Schließlich handelt es sich um einen recht knappen Mehrheitsbeschluß."

Markus Holtermans schob seine Pfeife vom linken in den rechten Mundwinkel und sagte: "Czylinsky hat recht."

Professor Drontheim, der schon weggehen wollte, ließ sich wieder in seinen gepolsterten Sitz fallen. "Was haben Sie denn jetzt noch auszusetzen?"

"Das Bild hat Mängel", rief Czylinsky. "Schon die Kontraste stimmen nicht, man kann den Vordergrund kaum vom Hintergrund trennen."

"Na, wenn es sonst nichts ist." Drontheim beugte sich über die Tastatur, tippte ein paar Zahlen ein. "Ist es so besser?"

"Es ist besser", murmelte Holtermans.

"Es ist besser, aber noch nicht gut", sagte Czylinsky, der keine Lust zu haben schien, die Sitzung zu beenden. "Mich stört dieser Hintergrund, diese tristen Farben... Wie wäre es denn, wenn wir sie ein wenig ändern würden?"

"Grün", sagte Holtermann und zog an seiner Pfeife.

Jetzt meldete sich Virginia Miller-Stark, die über eine Teleleitung zugeschaltet war, zu Wort. "Aber meine Herren, das können wir doch nicht tun!"

Der Professor beachtete sie nicht, er schüttelte den Kopf und griff zur Maus. Er aktivierte die Farbpalette und stellte den Hintergrund auf grün.

Jetzt hob Tagore Rajman die Hand: "Damit wird ein anderer Fehler des Bildes deutlich: Die Grundstruktur ist mir zu beliebig. Könnte man nicht einige Schwerpunkte setzen?"

Drontheim schüttelte müde den Kopf, blickte Rajman über seine Brillengläser hinweg an. Dann seufzte er, tippte ein paar Zahlen ein, klickte mehrfach auf die Maus - und das Flechtwerk hatte sich in eine braungelbe Masse verwandelt, die recht unappetitlich wirkte.

"Das ist ja grausam", ertönte Virginias Stimme über den Lautsprecher. "Ich muß entschieden..." Drontheim griff unauffällig zum Drehknopf und schaltete sanft auf 'leise'.

"So kann man das Bild nicht lassen!" rief Czylinsky. Er dachte angestrengt nach. "Dieses Gebilde in der Mitte hat keine Aussage. Wir sollten etwas Markantes dahin setzen, etwas Symbolisches."

Rajman trat an die Konsole und arbeitete mit flinken Fingern an Tastatur und Maus. Die braune Masse verwandelte sich in verschiedene klar umrissene Formen, bis Holtermans plötzlich rief: "Halt!"

Alle starrten auf das Bild: Die Figur war zu einem plumpen Etwas geworden: ein Oval mit mehreren Ausläufern.

"Da haben Sie Ihr Symbol", sagte Drontheim, und auch Rajman war sichtlich mit dem Ergebnis seiner Versuche zufrieden. "Eine Amöbe."

"Ein Elefant", widersprach Holtermans. Tatsächlich - jetzt konnten ihn alle deutlich erkennen: ein Elefant.

Auf dem Bildschirm sah man Virginia Miller-Stark, die heftig gestikulierte, aber man hörte nichts von dem, was sie sprach.

"Die Farben stimmen nicht", sagte Czylinsky und klopfte nervös mit dem Kugelschreiber auf die Tischplatte.

"Machen Sie ihn grau", forderte Drontheim, doch Rajman schien nicht sicher.

"Blau", sagte Holtermans und sog an seiner Pfeife.

"Warum nicht blau?" Rajman schob die Maus hin und her - und der Elefant war blau.

"Jetzt stimmt alles", sagte er.

"Sieht gut aus", bestätigte Drontheim, "das Bild hat den Preis verdient. Ich habe doch gleich erkannt, was in ihm steckt."

"Das wär's dann", sagte Holtermans, und schlug seine Pfeife zufrieden am Aschenbecher aus. Auf dem Bildschirm war noch immer Virginia Miller-Stark zu sehen, in ihrem unfreiwillig stummen Protest.

"Dann sind wir uns einig", sagte Drontheim, und jetzt gab es keinen Widerspruch.

* * *

Der größte Wirbel hatte sich gelegt, und Carry Eisfeldt stand immer noch vor seinem Bild . 'Der blaue Elefant' - das konnte er sich nicht gefallen lassen. Aus seinem Kunstwerk war übelster Kitsch geworden. Pfui Teufel! Er würde Protest einlegen, den Preis nicht annehmen, die Jury...

Der Preis war mit 10.000 Mark verbunden, und das machte Carry ein wenig nachdenklich. 10.000 Mark sind eine beachtliche Summe für einen brotlosen Künstler. Er blickte das Bild noch einmal an. Dieser grüne Hintergrund, gut plaziert in der Mitte die wuchtige Tiergestalt ... genau genommen stammte es schließlich von ihm. Vielleicht war das gar nicht so schlecht. Eigentlich... Eine hochkompetente Jury hatte dieses Bild ausgewählt - man muß schließlich auch die Meinung von anderen anerkennen. Man konnte ja noch darüber nachdenken. Er stellte sich unter den 'blauen Elefanten' und nahm die Glückwünsche, die man ihm aussprach, wohlwollend entgegen.