Das Schichtenbild der Stalagmiten


Herbert W. Franke


Die formbildenden Prozesse bei der Entstehung von Höhlensinter sind heute im Prinzip bekannt [Buhmann und Dreybrodt 1985, Dreybrodt 1980, Dreybrodt und Franke 1987]. Zu den wichtigsten Einsichten gehört es, daß Boden- und Deckensintergebilde einen grundsätzlich verschiedenen Formenschatz aufweisen. Insbesondere beim Bodensinter ist der schichtenweise Aufbau besonders deutlich ausgeprägt [Franke 1956 u. 1961]. Was als äußeres Erscheinungsbild auftritt, ist nichts anderes als die Oberfläche der obersten Schicht. Doch auch die Form der darunterliegenden Schichten, die dem Sichteindruck normalerweise verborgen bleibt, ist von wissenschaftlichem Interesse, da sich darin klimaabhängige Sedimentationsprozesse, eine Art Klimakalender, abzeichnen. Besonders wichtig ist die Lage der Schichten auch, wenn es darum geht, die besten Stellen für Probeentnahmen für chemische Untersuchungen oder für Datierungszwecke zu entnehmen.
Aus verschiedenen Gründen ist eine Berechnung des Schichtenbilds schwierig oder unmöglich, dagegen läßt sich mit Hilfe der computerunterstützten Simulation ein guter Einblick in die innere Struktur erzielen. Die ersten Versuche stammen von Dreybrodt und Lamprecht [Dreybrodt u. Lamprecht, ung.1980], die dazu das spezielle Simulationsprogramm Simula einsetzten; als Ergebnis erhielten sie Querschnitte durch Bodenzapfen. Im folgenden wird beschrieben, wie eine solche Simulation des Schichtenbilds der Stalagmiten auch mit Hilfe üblicher PCs durchgeführt werden kann. Das dazu eingesetzte Programmsystem Mathematica erlaubt es überdies, von den Querschnittbildern zu räumlich-perspektivischen Ansichten überzugehen. Dabei wird ein rotationssymmetrischer Aufbau vorausgesetzt.
Dem Beispiel von Dreybrodt folgend wird davon ausgegangen, daß das Kristallwachstum stets senkrecht auf die Basisfläche erfolgt. Daraus ergibt sich ein System orthogonaler Trajektorien, das sich in Abhängigkeit von der gewählten Auflösung in beliebiger Näherung dargestellen läßt. Setzt man Rotationssymmetrie voraus, dann kann man das Problem auf zwei Dimensionen beschränken. Zur Erfassung der Geometrie bedarf es noch einer Abfallkurve, die die pro Zeiteinheit abgesetzte Schichtdicke beschreibt. Wegen der vielen, lokal wechselnden Einflußfaktoren läßt sich diese nicht ableiten, vielmehr ist nach jener zu suchen, die die beste Beschreibung liefert. Da die Absetzung des Karbonats dem Ungleichgewicht zwischen dem in der Lösung bzw. in der Luft enthaltenen Kohlendioxid proportional ist und dieses sich im Laufe des Abrinnens der Lösung ausgleicht, sind die abgesetzten Schichten an der Achse am größten und werden gegen die Peripherie zu immer dünner. Dieser Fall entspricht vielen anderen in Physik und Chemie bekannten Prozessen und wird normalerweise mit Hilfe einer sogenannten negativen e-Potenz beschrieben. Während sich Dreybrodt für eine lineare Funktion entschieden hat, wird hier eine quadratische eingesetzt - da sich die Lösung über eine Fläche verbreitet, ist ein quadratisches Abfallgesetz wahrscheinlich. Das im Folgenden wiedergegebene Programm gestattet es, verschiedene Abfallfunktionen probeweise einzusetzen und am Ergebnis zu kontrollieren. Im Übrigen stellt sich heraus. daß - wie schon früher erkannt wurde [Franke 1956] - verschiedene Funktionen zu keinen wesentlichen Unterschieden führen; bei allen stellt sich während des Wachstums bald eine stationäre Situation ein - in dem Sinn, daß sich haubenförmige Schichten einheitlicher Form senkrecht übereinanderstülpen.
Die angeführten Bildbeispiele zeigen, daß sich die Simulation auch veränderlichen Situationen anpassen läßt, insbesondere einer Änderung der Lösungs-Zufuhrgeschwindigkeit, die deshalb interessant ist, weil sich in ihr die Humidität der betreffenden Klimaphase spiegelt: Der Durchmesser eines Stalagmiten ist der pro Zeiteinheit zugeführten Lösungsmenge - unabhängig von deren Konzentration - proportional. Im Laufe des Wachstums abnehmende Durchmesser, die zu Kegelformen führen, deuten auf eine Klimaphase zunehmender Trockenheit. Anwachsende Durchmesser, die auf der Spitze stehende Kegel aufbauen, lassen auf einen Anstieg der Feuchtigkeit schließen; allerdings entstehen dabei überhängende Begrenzungsflächen des Stalagmiten, für die nicht mehr die Wachstumsregeln des Bodensinters, sondern jene des Deckensinters maßgebend sind. Folge davon ist, daß solche Gebilde in der Natur zwar vorkommen, jedoch, da sie von Vorhängen verdeckt werden, nicht zu beobachten sind.

Vereinfachungen bei der Simulation

Bei Computersimulationen von Naturvorgängen sind Vereinfachungen unabdingbar; es kommt dann darauf an, inwieweit sie die wesentlichen Eigenschaften des betrachteten Phänomens beschreiben. Eine Vereinfachung bei der Modellierung von Stalagmiten ist die vorausgesetzte Rotationssymmetrie. Wenn man nur einzelne Sintergebilde betrachtet und Überlagerungen außer acht läßt, dann wirkt sich diese Maßnahme nur in der Initialphase des Wachstums aus, die darauf ansetzende stationäre Form erweist sich, wie erwähnt, als eine eindeutige Funktion der berücksichtigten Parametern, unabhängig von der Form der Untergrunds und der untersten Schichten. Man kann den Modellstalagmiten also auf einer ebenen Basisfläche aufwachsen lassen und stellt trotzdem jene Formen richtig dar, die in Naturhöhlen ins Auge fallen. Das Programm erlaubt allerdings auch die Annahme eines unebenen Bodens, soweit die Rotationssymmetrie beibehalten wird. Dabei ist allerdings darauf zu achten, daß die Höhenkoordinaten der Stützpunkte stetig abfallen; andernfalls würde jener Fall eintreten, bei dem sich die Lösung in Vertiefungen sammelt, so daß die Grundvoraussetzung der Kalkausscheidung bei Bodenformen - jene aus dünnen Filmen - nicht mehr gegeben wäre. Auf diese Weise kann man sich auch durch Simulationsversuche davon überzeugen, daß die stationaren Formen von der Auflageform unabhängig sind. Im übrigen wäre es möglich, das Programm auf den assymmetrischen Fall zu erweitern, allerdings mit einer gehörigen Steigerung des Rechenaufwands. Mit solchen Programmen ließen sich dann auch Ensembles von Stalagmiten mit Überlagerungen, wechselnden Quellpunkten usw. darstellen.
Eine andere Vereinfachung betrifft die Genauigkeit der Darstellung, die im betrachteten Fall von der Zahl der Stützpunkte und der Dicke der übereinander angeordneten Schichten abhängt. Prinzipiell kann man mit beliebig feinen orthogonalen Netzen rechnen und sich dabei dem wirklichen Zustand beliebig nähern - allerdings ist dem durch steigende Rechenzeit und Speicherbedarf bald eine Grenze gesetzt.

Beschreibung des Programms


Die wählbaren Anfangsbedingungen drücken sich durch folgende Parameter aus:

dic ....... Dickenzuwachs der Schicht pro Zeiteinheit
pz ........ Zahl der Stützpunkte
rep ....... Zahl der Schichten
xfolge ... x-Koordinaten der Stützpunkte
yfolge ... y-Koordinaten der Stützpunkte

Im iterativen Abschnitt (do-Schleife) werden von den Stützpunkten aus senkrechte Gerade zur nächsten Generation von Stützpunkten gezogen. Dazu wird der Dickenzuwachs pro Zeiteinheit dicke[ ] berechnet, wobei j die Nummer des aktuellen Stützpunkts angibt. In der Abfallfunktion dic * Exp[-(bogenlänge[ j ] / r)^2] ist r dem Radius der stationären Abschnitte der Bodenzapfen gleich. Der mit if eingeleitete Teil des Programms erlaubt die Anpassung an verschiedene Bildungsbedingungen, u.zw. mit konstanter, stetig veränderlicher oder abgestufter Wasserzufuhrgeschwindigkeit. Im abschließenden letzten Abschnitt werden die Stützpunkte für den nächsten Lauf der Schleife in passende Form gebracht. Da sich die achsennahen Trajektorien im Laufe der Iteration mehr und mehr nach außen neigen, vergrößern sich ihre Abstände so sehr, daß der Linienzug, mit dem die Schichtoberfläche beschrieben wird, zu stark vergröbert wird. In ähnlicher Weise wie bei Dreybrodt werden daher neue Trajektorien zwischengeschoben; um die Zahl der Stützpunkte nicht zu erhöhen, wird dann der äußerste der Reihe entfernt.
Als Ergebnis erhält man Querschnitte durch Bodenzapfen, in denen der Schichtaufbau sowie die Kristallisationsrichtung zu erkennen sind. Naturlich läßt sich jede Schichtfläche einzeln berechnen und ausgeben, speziell jener der äußersten Schicht, die die Oberfläche des Stalagmiten wiedergibt.
Die beschriebene Vorgehensweise, deren Details im Programm ersichtlich sind, läßt sich sinngemäß auch auf andere mathematische Programmsysteme übertragen, von denen die meisten auch entsprechende Möglichkeiten grafischer Visualisierung bieten.

Fotorealistische Bilder von sintererfüllten Höhlenräumen


Zum wissenschaftlichen Aspekt der Sinterformen ist in letzter Zeit noch ein weiterer hinzugekommen, u.zw. die realistische Darstellung von Höhlenräumen. Für pädagogische Zwecke beispielsweise wäre die Möglichkeit, das Wachstum von Tropfsteinen im Zeitraffer darzustellen, höchst interessant, doch auch an computeranimierten Fahrten durch Höhlenraume für Filme oder Computerspiele besteht Interesse. Dabei wird die grundsätzliche Frage berührt, wie weit computergenerierte Nachbildungen natürlicher Objekte dem vorgegeben Formenschatz überhaupt entsprechen müssen. Im Fall von Gebirgslandschaften beispielsweise begnügt man sich meist mit einem fraktal gegliederten Relief - eine Vereinfachung, die auch mancher Laie als unecht empfindet. Auch Clifford Pickover, von dem sehr eindrucksvolle computergenerierte Simulationen von Höhlenräumen stammen [Pickover 1998], beschränkt seine Darstellung auf die mathematisch und computergrafisch viel leichter erfaßbaren Deckenformen und stellt die Bodenformen als Spiegelbilder der Deckenformen dar.
Programmtechnisch ist es leicht, die mit dem Mathematica-Programm aufgebauten Stalagmiten in computergrafisch erzeugte Bilder von Höhlenräumen zu importieren und damit auch den Bodensinter realistisch darzustellen. Gute Vorraussetzungen dafür bietet das Programmsystem Bryce, mit dem sich realistische Geländeformen herstellen lassen - z.B. erodierte Bodenpartien. Es bietet weiter eine breite Palette von Farben und Texturen, die man einzelnen Objekten oder Objektgruppen zuordnen kann. Schließlich lassen sich in den dreidimensional-perspektivisch konzipierten Räumen Lichtquellen positionieren, um die Szene gut auszuleuchten - eine Aufgabe, die in frappanter Weise jener des Höhlenfotografen entspricht, der nach den günstigsten Stellen für die Anordnung der Blitzlichtlampen sucht.

Das Programm

Needs["Geometry`Rotations`"]
Needs["Utilities`DXF`"]
Needs["Graphics`SurfaceOfRevolution`"]

dic=1.5;
pz = 24;
rep =40;
xfolge = {0.,.8,1.,1.25,1.5,1.75,2.,2.5,3.,3.5,4.,4.5, 5.,5.5,6.,7.,8.,9., 10.,11.,12.,13.,14.,15.};
yfolge = {0,0,0,0,0,0,0,0,0,0,0,0,0,0,0,0,0,0,0,0,0,0,0,0};
linienzug0= Line[ Table[{xfolge[[j]], yfolge[[j]]},{j,1,pz}]];
k =0;
Do[ ska[j_] := Sqrt[( (xfolge[[j+1]] - xfolge[[j]])^2 +
(yfolge[[j+1]] - yfolge[[j]])^2 )];
bogenlänge[j_] := Sum[ska[n],{n,1,j}];
(*If[k<8,Goto[weiter1]];*)
dicke[j_] :=N[dic * Exp[-(bogenlänge[j]/4.5)^2],3];
(*Goto[weiter2];*)
(*Label[weiter1];*)
(*dicke[j_] := N[dic * Exp[-(bogenlänge[j]/9)^2],3];*)
(*dicke[j_] := N[dic * Exp[-(bogenlänge[j]/(9- k/2))^2],3];*)
(* dicke[j_] := N[dic * Exp[-(bogenlänge[j]/(3+ k/3))^2],3];*)
(*Label[weiter2];*)
p[j_] :={xfolge[[j]], yfolge[[j]]};
d[j_] :=N[ Rotate2D[
p[j+1]-dicke[j]*(p[j+1]-p[j])/ska[j] ,
Pi/2,
p[j+1] ], 3]; <
zwei = Table[d[n],{n,1,pz -1}];
k += 1;
vers = Prepend[zwei,{0,k*dic}];
kris[k] =Table [Line[{p[j+1],d[j]}],{j,1,pz -1}];
linienzug[k] = Line[vers];
If [ska[1] < 1.,Goto [sprung1]];
erweitert1 = Insert[vers,.5*({0.,k*dic}+d[1]),2];
reduziert1 = Delete[erweitert1,pz+1 ];
vers = reduziert1;
Label[sprung1];
xfolge=Table[vers[[m]][[1]],{m,1,pz}];
yfolge=Table[vers[[m]][[2]],{m,1,pz}],
{rep}];

Darstellung der Bilder

Show[Graphics[{linienzug0,
Table[linienzug[k],{k,1,rep}],
Table[ kris[k],{k,1,rep}]}],
Axes -> True,
AspectRatio -> Automatic,
AxesOrigin -> {0,0}];

3D-Darstellung

ListSurfaceOfRevolution[vers,
PlotRange -> All,
BoxRatios -> Automatic,
ViewPoint->{1.208, 3.050, 0.829}];

Kerzenzapfen



Sinterkegel


Literatur


D. Buhmann und W. Dreybrodt (1985): The Kinetics of Calcite Dissolution and Prepicipation in Geologically Relevant Situations of Karst Areas, Chem. Geol. 48.

W. Dreybrodt (1980): Deposition of Calcite from Thin Films of Natural Calcareous Solutions and the Growth of Speleothems, Chem. Geol. 29, 89-105.

A. Dreybrodt und G. Lamprecht(ung. 1980): Computer-Simulationen des Wachstums von Stalagmiten, Vorausdruck.

W. Dreybrodt und H. W. Franke (1987): Wachstumsgeschwindigkeiten und Durchmesser von Kerzenstalagmiten, Die Höhle, 38.

H. W. Franke: (1956): Beiträge zur Morphologie des Höhlensinters I, Die Höhle 7, 35f.

H. W. Franke (1961): Der schichtenweise Aufbau der Bodenzapfen. Die Höhle 12, 8-12

H. W. Franke (1961): Der schichtweise Aufbau des Bodenzapfens, Akt.d. 3. Internat. Kongr. F. Speläologie 1961 in Wien, Obertraun, Salzburg, II, 63.

H. W. Franke(1975): Correspondence between Sintering and Corrosion. Ann. Spélé. 30, 4, 665-675

C. A. Pickover (1998): Cavern Genesis as a Self-Organizing System, Leonardo 31.